Im August 1998, vor 25 Jahren, nahm ich das erste Mal am Yogakongress teil. Schon damals praktizierte ich intensiv Yoga, meditierte, nahm an Yogaferien teil und hegte den Wunsch nach einer Yogaausbildung. Adelheid Ohlig, meine Yogalehrerin, erzählte mir von einem internationalen Yogatreffen. Sie war seit den 1980er-Jahren regelmäßig bei den Yogatagen im schweizerischen Zinal dabei gewesen – als Lehrerin, Dolmetscherin oder Organisatorin.
Ich dachte mir: Spirituelle Nahrung in Praxis, Theorie und Philosophie in neuer Form und dazu noch Kulinarik, Kultur und Wandern – das ist etwas für mich! Und so buchte ich Yogawoche, Fahrkarte und ein Zimmer in Zinal. Die Erinnerung an meinen ersten Kongress beflügelt mich stets aufs Neue, wenn ich nach Zinal komme – wie fast in jedem der vergangenen 25 Jahre.
Die Reise nach Zinal
Die Bahnreise von Wien nach Zinal ist schön: Landschaften sind zu bewundern, und das Licht, wenn der Zug aus einem der vielen Tunneln hinausfährt. Die große Vielfalt an Sprachen und Dialekten, wenn man flüchtige oder tiefgreifende Gespräche mit anderen Reisenden führt oder ihnen nur lauscht. Auch fürs Lesen ist einen ganzen Tag lang Zeit. Auf der letzten Strecke sind 1137 Höhenmeter zu bewältigen, die schafft der Postbus über die Serpentinen vom Bahnhof Sierre/Sieders via Vissoire zum Talschlussort Zinal in circa 60 Minuten. Schon im Bus, beim Aussteigen und natürlich vor dem Yoga-Kongressbüro begegnen einander Yogis und Yoginis. Die Wiedersehensfreude und die Neugier auf das, was kommt, sind groß. Wir erleben das Hier und Jetzt und spüren den Geist des Yoga – willkommen im europäischen Yogadorf Zinal!
Zinal und das Val d’Anniviers
Zinal liegt auf 1670 Metern im Val d’Anniviers, einem südlichen Seitental des Rhônetals im Schweizer Kanton Wallis, eingebettet in einer Gebirgslandschaft von 4000er-Gipfeln: Weisshorn, Bishorn, Zinalrothorn, Obergabelhorn, Matterhorn und Dent Blanche. Durch das Dorf fließt der Bach Navizence, hier tosend, dort sanft plätschernd. Zinal hat einen kleinen historischen Dorfkern, geprägt von den aus Holz und Stein gebauten, teils 150 Jahre alten Anniviarden-Häusern, und einem Viertel mit Hotels, Restaurants, Ferienhäusern, Apartments, Postamt, Bäckerei, einer Handvoll Lebensmittel- und Sportgeschäften, Bars und sogar einem Massagesalon. Für meditative Spaziergänge und Bergwanderungen gibt es 300 Kilometer gut markierter Wanderwege. Der Gipfel des Hausbergs Sorebois, erreichbar zu Fuß oder per Seilbahn, liegt 770 Meter höher und bietet eine atemberaubende Bergkulisse. Empfehlenswert sind zudem die Kupfermine von La Lée in Zinal, der Planetenweg zur Sternwarte in St. Luc und die Dauerausstellung über Ella Maillart, eine der großen Reisenden des 20. Jahrhunderts, in Chandolin.
Eine kleine Zeitreise von den Anfängen der Europäischen Yogaunion …
Über frühere Yogakongresse hatten mir schon viele Yoginis und Yogis in Zinal erzählt. Doch erst jetzt stellte ich mir Fragen wie: Warum Yogakongresse ab 1973? Warum in Zinal? Warum europäische Yogakongresse?
So machte ich mich auf zu einer Zeitreise zurück in die 1950er-Jahre, las über die ersten Yogapionierinnen und -pioniere der modernen Zeit in West(-Europa), über erste Yogaschulen und Yogasommerschulen und verstand, warum in den 1960er-Jahren der Wunsch und der Bedarf nach Vernetzung und Zusammenschluss, vorerst auf lokaler bzw. nationaler Ebene, aufkamen, und wie all das zur Gründung der ersten Yogaverbände führte. 1972 schließlich entstand auf Initiative der Yogaverbände Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz der erste europäische Yoga-Dachverband (UEFNY). Aus ihm wurde 1975 die heutige Europäische Yoga Union (EUY), die inzwischen 24 Yogaverbände vereint. Die Yogaunion gibt Standards und Richtlinien für Ausbildungen mit Zertifizierungsverfahren vor und organisiert jährliche Weiterbildungen bzw. den Kongress in Zinal.
… zu den Europäischen Yogakongressen
Auf der zweiten Etappe meiner Zeitreise beschäftigte ich mich mit den Fragen: Warum Zinal und warum ab 1973?
Claude Peltier, Gründungsfrau der UEFNY und langjährige Vorständin des Französischen Yogaverbands, wurde 1972 von der Yogaunion mit der Organisation eines europaweiten Yogatreffens beauftragt. Es fand gleich im darauffolgenden Jahr im Hotelkomplex des Club Mediterranée in Zinal statt.
Der Gründer des französischen Touristikunternehmens „Club Mediterranée“ und Erfinder des Cluburlaubs in den 1950er-Jahren, der Belgier Gérard Blitz, hatte einen offenen Geist für spirituelle Strömungen. In den 1950er- und 1960er-Jahren praktizierte er selbst Yoga bei Eva Ruchpaul, lernte Meditation bei dem japanischen Zen-Mönch Taisen Deshimaru und schätzte Jiddu Krishnamurtis nicht-direktive Pädagogik. Blitz verwirklichte seine Vision eines großen Yogatreffens im Walliser Bergdorf Zinal in dieser Hotelanlage, die 1966 in Betrieb genommen wurde (und heute, revitalisiert, vom belgischen Tourismusunternehmung Intersoc geführt wird). Er veranstaltete bis Ende der 1980er-Jahre die europäischen Yogakongresse im Club-Format mit 600 bis 1000 Teilnehmenden. Die Treffen waren in dieser Zeit einzigartig in Europa, förderten den Zusammenhalt und den Austausch zwischen Ost und West, Asien und Europa. Sie trugen im großen Maße zur Verbreitung von Yoga in Europa bei und formten den europäischen Blick auf Yoga.
Ab Anfang der 1990er-Jahre setzte sich die nächste Generation von zuversichtlichen und mutigen Yogis und Yoginis, wie der Belgier Roland Fauconnier, der Franzose Philippe de Fallois oder die Französin Jacqueline Lacour, tatkräftig dafür ein, dass die Yogakongresse weiterhin veranstaltet werden – nunmehr seit mehr als 30 Jahren im heutigen Format, ohne Club-Med.
Die Zinal-Yogawochen, wie ich sie erlebte
Am ersten Abend wird der Kongress in der großen Halle Forum feierlich eröffnet. Nachdem die 300 bis 500 Yogis und Yoginis Om getönt und dem Urklang gelauscht haben, begrüßen der EUY-Vorstand und das Zinal-Organisationskomitee die Teilnehmenden und stellen die Referentinnen und Referenten der Woche vor. Ein Impulsvortrag führt ins Kongressthema ein und eine künstlerische Darbietung rundet die Eröffnung ab.
Ab dem Folgetag sind die Teilnehmenden mit ihren Yogamatten, Decken und Sitzkissen zwischen den vielen Kongressorten im ganzen Dorf unterwegs: Im Forum können etwa 160 Yogis und Yoginis praktizieren, im Lotus 110, im Les Liddes, im Bondes und im Navizence jeweils 50. Praxis- und Vortragseinheiten finden aber auch auf dem Hausberg Sorebois im Freien und drinnen sowie am Ufer der Navizence und im Dome Tent, einer Art großem Zelt, statt.
Die Yogapraxis morgens und spätnachmittags dauert je 90 Minuten (ab 7 bzw. 17 Uhr), wahlweise auf Englisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch, Italienisch, Spanisch oder auch mehrsprachig. Unter den vielen Yogastilen und Traditionen, ob sanft, dynamisch, meditativ, akrobatisch, anatomie- oder atembetont, fand ich stets etwas, das für mich gerade stimmig war.
Die zweistündigen Vor- und Nachmittagsworkshops (ab 10 bzw. 14:30 Uhr) setzen sich mit dem Kongressthema philosophisch und theoretisch auseinander. Parallel dazu werden praxisorientierte Arbeitskreise, Weiterbildungen, ayurvedische Kochkurse und meditative Wanderungen angeboten.
Eine Auswahl der Kongressthemen der vergangenen Jahre: Ekata: Einheit in der Vielfalt (2018); Svasta: die Rolle der Gesundheit im traditionellen und im modernen Yoga (2016); Atha: Yoga ist Jetzt (2017); Spiritualität im 21. Jahrhundert (2009); Wie und warum praktizieren wir Yoga? (2013); Wie setzen wir Yoga als Methode, Lehre und Praxis im täglichen Leben um? (2014); Yoga und Erziehung: Welchen Beitrag kann Yoga in der Gesellschaft leisten? (2010); Yoga und Wissenschaft (1998/2008), Ananda: Yoga und Freude (2015).
Arbeitskreise und Weiterbildungen bringen Yoga mit unterschiedlichen Disziplinen und Therapieansätzen in Verbindung. Mir gefällt die bunte Mischung aus Wissensvermittlung, intensiver Praxis und Forschung. Auf Basis der unterschiedlichen Meinungen, die man hört und über die man sich austauscht, kann man herausfinden, was am besten zu einem passt. So nimmt man viele neue Erkenntnisse mit nach Hause – eine Inspiration nicht nur beim Yoga lehren und lernen, sondern auch im täglichen Leben.
Bevor ab 20 Uhr das Abendprogramm beginnt, bleibt noch Zeit, sich ein wenig zusammenzusetzen und zu plaudern. Beim Abendessen im Chalet oder im Restaurant tauscht man sich dann informell über die Erfahrungen des Tages aus und genießt die Yogamenüs mit Spezialitäten aus Frankreich und dem Wallis. Mit künstlerischen Begegnungen und Konzerten im „Forum“ oder in der Kapelle klingt der Tag sanft oder belebend aus.
Während des Kongresses tagen die Delegierten der derzeit 24 EUY-Mitgliedsverbände und halten ihre jährliche Generalversammlung ab. Die Yogaverbände laden am ersten Abend zum „Meet and Greet“, mittwochnachmittags bittet dann das Tourismusbüro zum „Pick-nick am Sorebois“.
2023: Yoga in Zinal feiert 50-jähriges Jubiläum
Mit dem Thema Hridaya: Yoga – der Weg des Herzens feiert die EUY ihr 50-jähriges „Zinal-Jubiläum“ und schreibt damit die europäische Yogageschichte weiter. Die Vergangenheit zu kennen, ist wesentlich, um in eine glückliche Zukunft zu blicken. In diesen fünf Jahrzehnten hat sich mit den jährlichen Treffen in Zinal vieles entwickelt und vieles ist zur Reife gelangt, was die europäische Yogatradition geprägt hat.
Die Anfänge der Yogaunion und der Kongresse in Zinal fallen auch in die Zeit der europäischen Friedensbewegung und Einigungsbemühungen, deren Werte und Bemühungen heute wieder hochaktuell sind.
Mögen unsere und die folgenden Yogagenerationen den Geist von Zinal engagiert weitertragen. Mögen alle Yogatreffen so wie jenes von Zinal zum friedlichen Zusammenleben in Europa und in der Welt beitragen – mit den verbindenden Werten von Freiheit und Verbundenheit, Einheit und Diversität und mit der Offenheit für neue Strömungen.
Autorinnen-Porträt
Gyöngyi Hajdu, Dipl. Ökonomin und Übersetzerin aus dem Englischen. Muttersprache Ungarisch. Sie lernt Yoga seit 1994 und lehrt seit 2002 in der Luna Yoga® Tradition. Die Kraft der Sprache inspiriert und beflügelt sie auf ihrem Yogaweg. Sie ist Mitglied im Berufsverband der Yogalehrenden in Österreich (BYO).
Der Artikel erschien im Yoga-Info 1.2023, 50 Jahre Europäische Yoga Union
Reisebericht: EYU Yogakongresse